Es ist schon ein Erlebnis der besonderen Art, an einem Montagvormittag im Wiener Café Zartl zu sitzen und über den tauben Mischkonsum von Speed, Ketamin und Koks im Berghain zu lesen, während an den Nebentischen ein spanisches Studentenpaar nach ihrem Besuch im nahen Hundertwasser-haus Kaiserschmarren bestellt, eine betagte Dame lautmalerisch das Kreuzworträtsel der BUNTEN löst und ein älterer Herr wie aus dem Nichts ausruft: »Die Welt geht zugrunde, sie haben schon recht, die Rechten!«
Das gute Leben schien immer anderswo
Die Ausgangslage des jungen, namenlosen Ich-Erzählers in Finn Jobs Debüt ist so verfahren wie typisch: Wie so viele junge Deutsche und Europäer ist er nach dem Schulabschluss den Sirenenrufen von hedonistischer Selbstentgrenzung und Entprovinzialisierung nach Berlin gefolgt. Nachdem er die dort ausgelobten Freiheitstöpfe bis an ihre Ränder ausgezehrt hatte und auf die vielen Highs immer rascher und zahlreicher die Lows folgten, machte sich alsbald Ernüchterung breit. Die Drogen, welche anfangs noch das Bewusstsein erweitern sollten, dienen inzwischen nur mehr dessen Abdichtung gegen ein bedrohliches Außen. Das schöne Leben schien immer anderswo oder – wie im vorliegenden Fall – hastig und nicht sehr tief begraben in der Vergangenheit.
Der Protagonist des Romans, ein unaufdringlich schwuler Mitzwanziger, ist nur mehr ein halber Mensch. Er wurde verlassen von Chaim, seiner großen Liebe und besseren Hälfte, der nach Israel zurückgekehrt ist, weil ihm Berlin zu blöd und sein Freund zu unentschlossen wurde. So taumelt der zurückgelassene Ich-Erzähler drogensediert und emotional lädiert durch die hedonistische Dauer-Olympiade des Berliner Nachtlebens, das ihm allerdings nichts mehr zu geben vermag außer Irritation und Ekel.
» … a little insensitive to kiss each other in public?«
Die Entfremdung von der neuen Heimat wurde durch den Bruch mit dem Freundeskreis perfekt. Als der Erzähler und sein israelischer Freund Chaim sich in Neukölln einen flüchtigen Kuss auf der Straße gaben, begann eine Hetzjagd durch einen Mob minderjähriger Araber, die derlei Unart in ihrem Viertel nicht duldeten. Das Wort »Pack« entglitt dem um Haaresbreite Entkommenen. Doch statt mit Empathie reagierte sein Umfeld mit Unverständnis. Sätze wie: »Don’t you think it was a little insensitive to kiss each other? I mean, this is Neukölln – their home. You probably hurt their feelings«, darf sich der Ich-Erzähler anhören, der mit etwas weniger Glück auch mit Hämatomen oder Schlimmerem im Spital liegen könnte. Dass für queere und/oder jüdisch gelesene Menschen mittlerweile ganze Stadtbezirke wie Neukölln oder Wedding zu No-Go Areas geworden sind, ist längst bekannt, auch wenn viele sich aus ideologischen Gründen schwertun, dies einzugestehen. Dass diese Unbilden aber proaktiv relativiert werden von einer verblendeten Lifestylelinken, die in einer Mischung aus Paternalismus, geistiger Bequemlichkeit und schierer Feigheit lieber die Opfer statt die Täter migrantischer Gewalt anprangern, wenn diese jenes zuletzt an Silvester in Berlin wieder aufflammende Problem beim Namen nennen, ist ein relativ neues Phänomen. Wäre dem schwulen Paar Gleiches etwa in Bezirken wie Lichtenberg oder Hellersdorf durch autochthone Plattenbau-bewohner mit Thor-Steinar-Jacke widerfahren, hätte die korrekte Klassifi-zierung »Pack« für Menschen, die andere aufgrund ihrer sexuellen Orien-tierung jagen, die woke Ex-Clique des Erzählers wohl weitaus weniger empört.
Maulbeerfarbener Cayenne als Fluchtfahrzeug
Aber zurück zum Plot: Das Fluchtfahrzeug aus den Berliner Zumutungen ist ein maulbeerfarbener Porsche Cayenne, gelenkt vom gutmütig-verpeilten Kumpel Francesco. Dieser möchte in der Normandie ein Kunstprojekt realisieren, das im Wesentlichen darin besteht, eine leerstehende Kirche komplett mit Spiegelfolie auszukleiden. Francesco, der mit seinen glitzernden Thai-Box-Shorts und seinem schlecht gestochenen Schiele auf der Brust aussah wie ein »in die Jahre gekommenes Crashkid«, fragte den derangierten Protagonisten, den er liebevoll »Boy« nennt, warum er eigentlich nicht studiere. Dieser darauf: »Das habe ich schon versucht. Meine Kommilitonen sehen aus wie Riesenbabys. Alle hatten bunte Haare, trugen übergroße T-Shirts aus der Altkleidersammlung, wollten mit ihren Dozenten über ihre Gefühle reden und wechselten dreimal täglich ihre Pronomen.«
Engagierte Literatur kam selten eleganter daher
Die Ausgangslage von »Hinterher« beschreibt im Wesentlichen meine eigenen Fluchtgründe von Berlin nach Wien vor einigen Jahren. Nach dem dynamischen Beginn zwischen Berghain-Overdose und Sonnenallee-Stress wird der Roadtrip – auch nach Erreichen seines französischen Zieles – nicht weniger rasant. Allein Boy wird auch hier eingeholt von seiner seelischen Paralyse. Er steht ebenso neben wie außer sich und gerät zum reinen Passagier seiner Tour de force. Statt Distanz und Halt wirft ihn der französische Tapetenwechsel noch stärker auf die Gasförmigkeit seiner Existenz zurück. Beinahe halluzinatorisch wird er von Exfreund Chaim und anderen ungelösten Knoten seiner Vergangenheit heimgesucht, die ihm alle zu keiner Zukunft mehr gereichen können.
Die Sprache in »Hinterher« ist von großer Immersionskraft und erzeugt einen wahrhaften Sog. Scheinbar spielend löst Job dabei vermeintliche Widersprüche auf. Leichtfüßig wechselt er zwischen jenem teilnehmend-beobachtenden Weltekel des frühen Krachts in die taumelnde, nach vorn fallende Rauschhaftigkeit eines Fausers oder Millers. »Hinterher« ist feinster Stoff, bei dessen Genuss einem schon die Angst beschleicht, dass er einem bald ausgeht. Engagierte Literatur kam selten eleganter daher. Es stellt sich mir dennoch die Frage, ob dieses Buch vielleicht anders rezipiert worden wäre, hätte es ein heterosexueller Autor geschrieben.
Das Buch
Finn Job: Hinterher, Klaus Wagenbach Verlag, Berlin 2022.