Vom Glück auf dem Feldherrenhügel

Erwin Riess skizziert Überlegungen zu aktuellen Zuständen in Österreich nach Motiven von Charles Sealsfields »Austria as it is«.

Metternichs Gespenster

Im Dezember 1827 erschien in London eine Streitschrift, die rasch Verbreitung fand und in mehrere Sprachen übersetzt wurde. Über die Identität des anonymen Verfassers wurde in Zeitungen und Intellektuellenkreisen gerätselt. »Austria as it is« beschrieb das Metternich’sche Österreich mit sarkastischem Witz und großem Wissen um die agrarischen und ökonomischen Verhältnisse. Besonderes Augenmerk legte der Verfasser auf die Herrschaftsstrukturen des Habsburgerreiches.

Im Jahr 1854 wurde im schweizerischen Solothurn bei der Eröffnung des Testaments eines zurückgezogen lebenden Privatiers das Geheimnis der Urheberschaft der Streitschrift gelüftet. Es handelte sich um den in den 1830er und 1840er Jahren populären und geschätzten österreichisch-amerikanischen Schriftsteller Charles Sealsfield. Einen Mann, der Zeit seines Lebens Schwierigkeiten mit den österreichischen Behörden hatte und sich nach seiner Rückkehr aus den USA in der Schweiz niederließ. In Österreich, so seine begründete Befürchtung, würde man ihn einkerkern.

 

Brief an einen Freund

 

Verehrter Dozent!

Sie halten in wenigen Stunden Ihre Antrittsvorlesung an der New York University zum Thema Austria as it is 2023 – Sketches from a troubled state und ersuchen mich um ein paar Informationen, die geeignet sind, Ihren Vortrag aus der Masse der soziologischen Veranstaltungen herauszuheben. Ich beeile mich im Folgenden, Ihrer Bitte zu entsprechen. Im Theater gab es früher »farbegebende Edelchargen«, eine im Aussterben begriffene Gattung von Schauspielern, die über das Talent verfügten, mit wenigen Sätzen zu brillieren. So sehe auch ich meine Rolle. Und ich füge die Warnung hinzu: Es soll schon vorgekommen sein, daß Edelchargen die Hauptdarsteller von der Bühnen fegten.

 

Teurer Freund!

Lassen Sie uns auf den Spuren von Charles Sealsfields »Austria as it is« zur Betrachtung einer institutionellen Säule des Staates schreiten, wenden wir uns der Gewerkschaftsbewegung zu, die seit 1848 in verschiedenen Formen existiert. Ich stütze mich hier unter anderem auf die Arbeiten des besten Gewerkschaftskenners, Emmerich Tálos, sowie auf Daten der Arbeiterkammer Oberösterreich und der Nationalbank.

Es gibt in der österreichischen Innenpolitik und den sogenannten Premium-Medien bestimmte Konstanten. Zu ihnen zählen das Schweigen über die wahren Machtverhältnisse im Land, die andauernde Umverteilung von unten nach oben, die Bekämpfung der Idee von längst überfälligen Erbschafts- und Vermögenssteuern und das Wegschauen angesichts einer seit mittlerweile über dreißig Jahren sinkenden oder bestenfalls stagnierenden Lohnquote, die den Anteil der Löhne an der Wirtschaftsleistung ausdrückt. Diese ist seit dem Ende der 80er Jahre von 75% auf 68,6% im Jahr 2021, dem niedrigsten Wert seit Beginn der modernen Aufzeichnungen, gesunken – und das bei einer durchschnittlichen jährlichen Steigerung der realen Produktivität je Arbeitsstunde von 2 bis 3%.

 

Eine Untertreibung: Inflationsentwicklung anhand des Harmonisierten Verbraucherpreisindex im Vergleich zum Vorjahresmonat: Österreich und EU (Quelle: Eurostat)

 

Eine abgeleitete Größe dieser Konstanten ist die Selbsteinschätzung der Bevölkerung hinsichtlich ihres Status in der Gesellschaft. Zwei Drittel aller ÖsterreicherInnen geben an, sich dem Mittelstand angehörig zu fühlen. Das ist weit übertrieben und spiegelt eher die Aufstiegsambitionen von Menschen aus dem Dienstleistungsproletariat, welches oft einen migrantischen Hintergrund aufweist, den unteren Segmenten der Arbeiterklasse und abgestiegenen Gruppen des Kleinbürgertums wider. Gruppen, die objektiv vor dem Absturz nicht nur in die relative Armut stehen – in der sind sie längst angekommen –, sondern sich mit der Perspektive konfrontiert sehen, in die absolute Armut abzugleiten. Unter diesen Menschen finden sich besonders viele Frauen, oft Alleinerzieherinnen, Pensionistinnen, Arbeitslose, prekär Beschäftigte, kranke und behinderte Menschen (unter ihnen 25.000, die in Heimen von Sozialhilfeträgern wie der Lebenshilfe in Küchen, Wäschereien und dem Reinigungsdienst arbeiten, dafür aber nur ein Taschengeld von 20 bis 40 Euro – im Monat! – erhalten und noch dazu nicht einmal pensionsversichert sind).

In diesem Drittel der Gesellschaft ist die in den 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts als Gefahr beschworene Zweidrittelgesellschaft längst Wirklichkeit geworden und hat sich verfestigt. Es ist dieses Drittel der Gesellschaft, das von der explosionsartig gestiegenen Inflation und den mit dieser einhergehenden horrenden Preiserhöhungen bei Energie, Mieten und Grundnahrungsmitteln besonders hart getroffen wird.

Auffällig ist die Überraschung der ÖkonomInnen über Ausmaß und Wucht der Inflation. Alle Prognosen und Beschwichtigungen erwiesen sich als grotesk falsch. Wenn man indes jahrelang die Finanzmärkte mit Geld flutet, sollte klar sein, daß der aufgeblähten Geldmenge keine entsprechenden Waren gegenüberstehen. Dies aber ist der klassische Treiber von Geldentwertung. Doch die ÖkonomInnen waren vom Wirken dieser Binsenweisheit überrascht wie das Christkind von weißen Weihnachten. Offensichtlich gilt auch in dieser Herrschaftswissenschaft der Grundsatz: Besser gemeinsam irren als sich mit den Machtstrukturen anlegen.

Zur Inflationslage ein letzter Hinweis: Seit Jahrzehnten gibt es neben der klassischen Inflationsrate Pensionistenindizes und einen Index für Grundnahrungsmittel. Diese beschreiben die von großen Teilen der Bevölkerung tatsächlich erlebte Geldentwertung und dort werden Erhöhungen von über zwanzig Prozent festgestellt. Eine wirksame Preiskontrolle findet ja, obwohl die Gesetzeslage das ohne weiteres erlauben würde, nicht statt. Es ist bezeichnend, daß diese Indizes, die die Wirklichkeit besser widerspiegeln als die allgemeine Inflationsrate, welche die realen Verhältnisse untertreibt, in den Lohnverhandlungen von den Gewerkschaftern nicht erwähnt werden. Angemessen wären nämlich Lohnabschlüsse von mehr als zwanzig Prozent, die tatsächlichen Lohnzuwächse aber betragen nicht einmal zehn Prozent. Einmalzahlungen sind für die von der Preiserhöhung betroffenen Menschen bestenfalls ein Tropfen auf den heißen Stein. Daß Einmalzahlungen bei Großfirmen und Industriebetrieben aber auch wirkmächtig sein können, wurde durch das vorweihnachtliche Förderungspaket für die Großindustrie deutlich. Sie sind in diesem Sektor derart hoch, daß einige Ökonomen, die sich noch einen Rest von sozialem Gewissen bewahrt haben, wie Christoph Badelt vom Fiskalrat und Gabriel Felbermayr vom Wirtschaftsforschungsinstitut, Warnungen vor Über-Förderungen aussprachen. Man muß sich nur anschauen, wer das Weihnachtsgeschenk an »die Wirtschaft« lobte: die Industriellenvereinigung, der Präsident der Bundeswirtschaftskammer, Mahrer, konservative Wirtschaftslandesräte in den Bundesländern und die Lohnschreiber der Wirtschaft in den Redaktionen der Tageszeitungen und konservativen Think Tanks wie Agenda Austria.

In den 70er Jahren setzte die Arbeiterbewegung bei den Lohnverhand-lungen folgende Praxis durch: Abgeltung der auch damals hohen Inflation, spezielle Lohnerhöhungen im Niedriglohnsegment, plus drei oder vier Prozent Abgeltung des Produktivitätsfortschritts, der ja nur zum Teil von modernen Maschinen, zum Großteil aber von der Arbeitsleistung der Arbeiter und Angestellten und abgeleiteten Gruppen in Gesundheit, Bildung und Dienstleistung stammte. International war diese Vorgehens-weise nicht unüblich: Die italienische Arbeiterklasse setzte durch ihre große linke Richtungsgewerkschaft CGIL die scala mobile (eine automatische Abgeltung der Inflation) durch. Andere Staaten wie Frankreich und Zypern, letzteres mit der mächtigen kommunistischen Gewerkschaft PEO, folgten. In beiden Fällen – und in Österreich – ging diese Praxis mit einer Steigerung der Lohnquote einher, für Millionen Menschen begann der Aufstieg in die unteren Ränge des Mittelstands. Auto, Urlaub und Studienkarrieren für die Kinder wurden möglich und Österreichs variable Arbeitskraft erfuhr eine umfangreiche Modernisierung, welche letztlich auch den Unternehmen zugute kam und die wirtschaftliche Konkurrenzposition Österreichs verbesserte. In jenen Jahren wurden mittels der beschriebenen »Lohnpeitsche« und der damit ausgelösten notwendigen Erneuerung des Maschinenparks wie nie zuvor Marktanteile im Weltmarkt erobert. Wenn der Satz »Geht es der Wirtschaft gut, geht’s uns allen gut« je gestimmt hat, dann damals. Heute wagt dieser Satz sich längst nicht mehr in die Leitartikel der Zeitungen. Er ist zur Lüge verkommen.

Geschätzter Dozent!

Eine konsensorientierte Einheitsgewerkschaft führt über kurz oder lang zur politischen Einschläferung und Passivierung der Lohnabhängigen und zum umfassenden Verlust von Handlungs-, Protest-, und Kampfkompetenz. Das aber sind im Kapitalismus die einzigen Waffen von Anbietern der Ware Arbeitskraft. Oder wie Marx es formulierte: Gewerkschaften müssen den Kampf im Lohnsystem und gegen dieses führen. Fällt der zweite Teil weg, perpetuieren sich ausbeuterische Verhältnisse, die der Tatsache geschuldet sind, daß es einen gerechten Lohn nicht geben kann, weil es nun einmal die vertrackte Eigenschaft der Ware Arbeitskraft ist, mehr Wert zu produzieren als in ihre Herstellung und Ausbildung eingegangen ist. Jenseits aller moralischer Flausen ist das die Quelle der ökonomischen Ausbeutung, sie speist Mehrwert und Profit. In hochentwickelten Industriestaaten rechnet man – einen Achtstundentag zugrundegelegt –, daß 6,5 Stunden der Arbeitsleistung dem sogenannten Arbeitgeber (der eigentlich ein Arbeitnehmer ist) zugute kommen und der Rest von der Dauer eines Fußballspiels für die Reproduktion der Ware Arbeitskraft (Nahrung, Miete, Gesundheit) bleibt.

 

Eine längere Fassung des Textes erschien in der #8 der Zeitschrift »Die Sichel«.