Vorherrschaft auf musikalischem Gebiet

Anlässlich des 90. Jahrestags der Installation des Dollfuß-Regimes schreibt Paul Schuberth über die Tücken der Erinnerungspolitik und die Instrumentalisierung österreichischer »Tonheroen«.

Franz Stelzhamer, oberösterreichischer Mundartdichter und Textautor der Landeshymne, arbeitete als ideologischer Vorläufer dem Vernichtungs-antisemitismus zu. In einem Text aus dem Jahre 1852 beschreibt er »den Juden« als einen saugenden Riesenbandwurm, dessen Kopf abzuschlagen man bisher verabsäumt habe. Bei der Feier anlässlich des 70. Jubiläums der Hymne im Dezember 2022 sprach mit Landeshauptmann Thomas Stelzer zum ersten Mal ein prominenter ÖVP-Politiker diese Seite des gerühmten Künstlers an. Die antisemitischen Ausfälle seien unentschuldbar, und dadurch sei die Hymne »steter Anstoß, auch die Erinnerung an die Schatten unserer Geschichte lebendig zu halten«. Kritisches Erinnern als gemeinschaftsstiftend zu akzeptieren, als Chance, die vergangenen Schatten über Umwege in den Nationalstolz zu integrieren, hat die österreichische Volkspartei nun schon länger ins Auge gefasst. ÖVP-geführte Regierungen forcierten in den letzten Jahren den gesetzlichen Kampf gegen Antisemitismus, so wie sie weitere wichtige Projekte, etwa die Schoah-Namensmauer in Wien, realisierten. Was als Fortschritt nicht infrage gestellt werden kann, bringt doch auch den Kollateralnutzen für die Volkspartei mit sich, dass ihr bei der tendenziellen Gleichsetzung von Faschismus und Antifaschismus keine bösen Absichten unterstellt werden können. Gegen jeglichen Extremismus aufzutreten – ohne diesen Hinweis kommt keine Gedenkver-anstaltung mit ÖVP-Beteiligung aus. In der Konsequenz verweigerte die türkis-grüne Regierung 2021 etwa die Teilnahme an der Befreiungsfeier in Mauthausen, weil dort Linke dominieren würden. In dieser Atmosphäre kann der heimische Antisemitismus zum viel beachteten Museumsstück aufgewertet werden.

 

Das Bruckner-Denkmal in Steyr wurde 1898 errichtet und 1935 von »Bruckner Verehrern der Stadt Steyr« erneuert. (Bild: Christoph Waghubinger (CC BY-SA 3.0 AT))

 

Den fremden Antisemitismus zu bekämpfen, folglich: die Grenzen zu »schützen«, eine Mauer rund um Europa zu bauen, vom Islamismus bedrohten afghanischen Frauenrechtsaktivistinnen die Aufnahme zu verweigern – also das Kind nicht mit dem Bade auszuschütten, sondern es darin zu ertränken –, wird der Regierung hingegen als aufrechte Vergangenheitsbewältigung angerechnet. Die ÖVP-Regierung »übernimmt die Verantwortung für die Vergangenheit Österreichs nicht, sie kapert sie.« (Alexander Pankratz) Die Erinnerung an das Dollfuß/Schuschnigg-Regime (1933–1938) blieb bislang von solch ideellem Kidnapping verschont, auch weil die ÖVP ihre christlich-sozialen Vorgänger lange authentisch in hohen Ehren hielt. Ein erster Weckruf war das überraschende Zugeständnis des damals neuen Bundeskanzlers Karl Nehammer im Dezember 2021, dass die Charakterisierung des Regimes als »Austrofaschismus« nicht beanstandet werden müsse.

 

Unter Historiker*innen selbst herrscht keine absolute Einigkeit über die Sinnhaftigkeit der Bezeichnung »Austrofaschismus«. Für eine Charakterisierung als faschistisch sprechen die Zerschlagung der Arbeiterbewegung, Militarismus, die versuchte Überwindung des Gegensatzes zwischen Arbeit und Kapital durch die Forcierung der Volksgemeinschaft, Aktivierung der Bevölkerung, ein Führerkult, Einsatz von Massenästhetik, Verfolgung von »kulturbolschewistischen Tendenzen«, sowie die angebahnte Gleichschaltung gesellschaftlicher Teilbereiche. Mitunter wird eingewandt, dass das Fehlen eines militärischen Expansionismus das Regime als Vollfaschismus disqualifiziere. Doch gehörte zumindest die Fantasie von solcher Expansion zu den ideologischen Komponenten des Austrofaschismus. In einem Aufsatz zum Thema erklärt der Historiker Winfried Garscha, dass der ideologische Anspruch des Regimes berücksichtigt werden müsse, »die (deutsch-)österreichische Hegemonie im Donauraum zu restaurieren«. Die Heimwehr habe die Ziele konkret benannt: Die Durchdringung und Kolonisation des europäischen Ostens und Südostens sei die geschichtliche Mission der Deutschen gewesen. Eine Mission, die nicht von Berlin, sondern von Wien aus erfüllt werden könne. Weiters habe das Regime nicht zufällig das Kruckenkreuz gewählt, das als altes »Kreuzfahrer-symbol« für die »zivilisatorische Mission« des österreichischen Deutschtums gestanden habe. Diese Mission war als »österreichische Sendung«, mitsamt deren Träger, dem »österreichischen Menschen«, in der zeitgenössischen Diskussion allgegenwärtig. Sie richtete sich – wie Anton Staudinger in seinem Standardaufsatz zur »Österreich-Ideologie« feststellt – nach zwei Seiten hin: Nach außen, indem die »Errichtung eines universellen, über die deutsch-bevölkerten Gebiete hinausreichenden und in diesem Sinne ‚gesamtdeutschen‘ Reiches, wenn schon nicht in ‚abendländischen‘, so zumindest in mitteleuropäischen Dimensionen« angestrebt wurde; nach innen als Missionierung der »in diesem Verständnis schlechteren nationalsozialistischen Deutschen« durch die katholischen, »kulturell angeblich höherstehenden Deutschen in Österreich«. Durch die Abwesenheit politischer und militärischer Macht wurde dieser Anspruch auf die kulturelle Ebene übertragen; ein Phänomen, das einige Geschichtswissenschafter*innen als »Kulturimperialismus« bezeichnen.

 

Bevor aber die Bewohner Deutschlands von der Überlegenheit des Österreichertums überzeugt werden konnten, musste diese Idee den Österreichern selbst glaubhaft versichert werden. Eine der wichtigsten intendierten Funktionen der austrofaschistischen Kulturpolitik war, die »Österreich-Ideologie« in einer Bevölkerung zu verankern, welche der Notwendigkeit einer Selbständigkeit Österreichs mit Skepsis gegenüberstand. Nach außen hin sollten Vergangenheit und Gegenwart österreichischer Kulturerzeugnisse die Differenz zum barbarischen NS-Deutschland markieren. Zeugnisse davon sind die österreichischen Beiträge für die Weltausstellungen 1935 (Brüssel) und 1937 (Paris): etwa der Kulturfilm »Wiener Mode« (1937) mit kosmopolitischem Flair, die modernen architektonischen Beiträge Oswald Haerdtls, die Aufnahme zeitgenössischer, atonaler Werke in das Musikprogramm, oder zwei Konzerte der Wiener Philharmoniker – die als ideale Repräsentanten Österreichs vorgestellt wurden – unter dem in Deutschland verfolgten Dirigenten Bruno Walter. Künstler wie Willi Reich oder Ernst Krenek hingen noch lange am Glauben, dass die Behauptung einer internationalen Vormachtstellung im Bereich der Kultur mit einer Politik einhergehen müsse, die sich um eine geschützte Freiheit für moderne Kunst bemüht. Tatsächlich aber war auch die austrofaschistische Kulturpolitik von einer »versuchte[n] Konkurrenz mit dem Nationalsozialismus in bezug auf gleiche Ziele« (Sirikit Amann) geprägt. Der Hoffnung der regimetreuen »Reichspost« auf eine »weitgehende Entgiftung von den Bazillenträgern einer Pseudokunst« sollte im Großen und Ganzen entsprochen werden. Austrofaschistische Kulturpolitik richtete sich im Inneren gegen alles, was verdächtig war, mit Sozialdemokratie, Marxismus oder »Kulturbolschewismus« im Verbunde zu stehen. Doch hätte nicht Österreich aus purer Berechnung, die notwendige Eigenständigkeit zu demonstrieren, aus Deutschland vertriebene Künstler*innen willkommen heißen müssen? Die Arbeiter-Zeitung versuchte 1933, die faschistische Regierung so zu motivieren: »Österreich wäre imstande jetzt ein geistiges Zentrum für das Deutschtum, ein Weimar dieser Epoche zu werden … Ja, wenn man wollte!« Dass vertriebene Autor*innen in Österreich zwar nicht mit terroristischer Verfolgung, noch weniger aber mit Möglichkeiten zur Entfaltung rechnen konnten, bewiesen schon die begeisterten Reaktionen der treuen Zeitschriften »Schönere Zukunft« und »Reichspost« auf die deutschen Bücherverbrennungen.

 

»Musik – ob dieses Land im Licht, im Schatten liegt, / mit seiner Tonkunst hat es stets gesiegt«, dichtete Rudolf Henz in der »Kinderhuldigung im Stadion«, einem Stück Massenspektakel aus dem Jahre 1934. Tatsächlich spielte Musik eine wesentliche Rolle bei den Ansätzen zu solchen kulturimperialistischen Ideen; nach gängiger Vorstellung war Österreichs Vorherrschaft auf dem Gebiete der Musik unzweifelhaft. Wie die Musikwissenschaftlerin Anita Mayer-Hirzberger schreibt, dienten Institutionen wie die Wiener Philharmoniker, musikalische Denkmäler wie der Donauwalzer, vor allem aber anerkannte »Tonheroen« – Haydn, Mozart, Schubert – als »Katalysatoren« der damaligen Ideologie. Komponisten wurden zu Vorbildern für den neuen »österreichischen Menschen« mitsamt oben benannter Mission stilisiert. Dazu mussten sie zuerst Gegenstand einer zweifachen Zurichtung werden. Ihre individuelle Leistung wurde heroisiert. Heroisierung heißt, die Künstler von Geschichte und Tradition abzuschneiden, die doch so heiß geliebt wurden, und jeden künstlerischen Erfolg der Tatkraft des Individuums zuzuschreiben. Doch gerade diese aufgebauschte Individualität wird im nächsten impliziten Schritt wieder geleugnet. Denn Individualität hatte Geltung nur als Ausdruck der Individualität des Volkes. »Die großen Meister der Musik sind jene Persönlichkeiten, welche die Seele ihres Volkes am reinsten und unmittelbarsten verkünden.« (Musikschriftsteller Constantin Schneider) Neben Haydn, der zu einer Art Bauernkomponist umgelogen wurde, kam auch Mozart zur Ehre austrofaschistischer Vereinnahmung. In dieser Instrumentalisierung spiegelten sich unterschiedliche Gewichtungen bei der Interpretation des Austrofaschismus; die Frage, ob Mozart nun eher für die universelle Interpretation in Anspruch genommen werden konnte, da seine Musik doch allen Völkern natürlich am nächsten sei, oder für die eher vaterländische, nachdem in seinen Werken klar die österreichische Volksmusik nachhalle, konnte nicht eindeutig beantwortet werden. Zu Schubert hieß es: »Den Gipfelpunkt und die höchste Verklärung dieses Österreichertums in der Musik bedeutet die Musik Franz Schuberts, der Inkarnation des Wiener Musikgenius überhaupt.« (Musikschriftsteller Robert Lach) Doch Bruckner schien das Kostüm des österreichischen Menschen wie angegossen zu passen. Anita Mayer-Hirzberger zufolge gelang es zur Zeit des Ständestaates, Anton Bruckner als Symbol Österreichs zu behaupten. Alle gewünschten Eigenschaften des österreichischen Menschen deckten sich mit dem Bruckner-Bild dieser Jahre: naturnah, gläubig, deutsch, dienend. Besonders die Betonung des ersten Charakteristikums ging so weit, dass in der Vorstellung die oberösterreichische Landschaft mit Bruckners Musik verschmolz – und man nun nicht mehr wusste, ob sein Werk die musikalische Entsprechung der Landschaft darstellen sollte oder die Landschaft nach der Musik geformt worden war.

 

Dass auch Mahler manchmal unter »Musik der Heimat« rubriziert wurde, ist überraschend – angesichts einer allgemeinen antisemitischen Stimmung, die Staatsrat Leopold Kunschak 1936 dazu motivierte, einen schon 1919 formulierten Gesetzesentwurf erstmals zu veröffentlichen, nach dem Juden unter »Sondergesetz« gestellt werden sollten. Laut Gerhard Scheit und Wilhelm Swoboda wurde Mahler im Austrofaschismus zur »staatstragenden Größe«. Anlässlich seines 25. Todestages 1936 wurde ein offizieller Festakt mit Aufführungen seiner Werke und Vorträgen gestaltet. Auf die austrofaschistische Akzeptanz seiner Musik hatte die Verbindung Alma Mahler-Werfels zu den Staatsspitzen Einfluss, ebenso der Fokus auf Werke mit in christlicher Tradition stehenden Texten, aber auch Interpretationen wie die des Kritikers und Komponisten Joseph Marx, der Mahler als antiintellektuellen Naturliebhaber schätzte. Eine Rolle spielte Scheit/Swoboda zufolge auch die den Schroffheiten der Mahler’schen Musik entgegenwirkende musikalische Interpretation des Dirigenten Bruno Walter. 1937 sollte Hermann Scherchen noch nach Wien kommen, hier das Musica Viva-Orchester gründen und einen Mahler-Zyklus beginnen. Man mag die staatliche Vereinnahmung Mahlers argwöhnisch betrachten. Doch dass der Austrofaschismus Mahler immerhin noch instrumentalisierte, markiert einen der vielen, kaum ermesslichen Unterschiede zum Nationalsozialismus. Es muss nicht extra angegeben werden, dass die geplanten weiteren Konzerte des Zyklus am 24. 3., 28. 4. und 12. 5. 1938 nicht mehr stattfinden konnten.

 

Literatur:

Amann, Sirikit: Kulturpolitische Aspekte im Austrofaschismus (1934–38)
(Unter besonderer Berücksichtigung des Bundesministeriums für Unterricht),
Dissertation, Universität Wien 1987

Janke, Pia: Politische Massenfestspiele in Österreich zwischen 1918 und
1938, Wien, Köln, Weimar 2010

Mayer-Hirzberger, Anita: „… ein Volk von alters her musikbegabt.“ Der
Begriff „Musikland Österreich“ im Ständestaat, Frankfurt 2008

Moos, Carlo (Hg.): (K)ein Austrofaschismus? Studien zum Herrschaftssystem
1933 – 1938, Wien 2021

Scheit, Gerhard/Swoboda, Wilhelm: Feindbild Gustav Mahler. Zur
antisemitischen Abwehr der Moderne in Österreich, Wien 2010