Wir leben in einer Simulation. Allerdings nicht in einer aus dem Computer, wie es Nick Bostrom behauptet, der als Philosophendarsteller und Zukunftsforschungsschaumschläger die Stichworte für die dystopischen Visionen der Silicon-Valley-Techbros liefert. Sondern in einer ganz realen Demokratiesimulation.
Man erinnert sich: Anfang 2024, und – in nur leicht geringerem Ausmaß – ein Jahr später im Vorfeld der Bundestagswahl, demonstrierten in Deutschland Millionen Menschen gegen die AfD, den allgemeinen Rechtsruck und »für Demokratie«, wie es immer wieder in Reden und auf Transparenten hieß. Was genau da gerettet werden sollte, blieb zwar vage und inhaltsleer, aber immerhin hatte man das Gefühl, als bewege sich etwas. Das erdrückende politische Klima im Vorfeld dieser unerwarteten Bewegung beschrieb ich an dieser Stelle seinerzeit so:
»Andere Fragen als die, wie man Geflüchtete effektiver los wird, Erwerbslose noch besser schikaniert und welche sozialen Bereiche, Klimaschutzmaßnahmen und Projekte der politischen Bildung als Nächstes der Haushaltsaxt zum Opfer fallen, schien es nicht zu geben. […] Dieses reaktionäre Dauerfeuer sorgte in den progressiveren Teilen der Gesellschaft für lähmende Ohnmachtsgefühle, die sich höchstens mal in den sozialen Medien Luft machten. Die plötzlichen Massenproteste wirkten da, als hätte jemand in einem unerträglich stickigen Raum die Fenster aufgerissen.«
Knapp zwei Jahre und eine Wahl später muss man ernüchtert feststellen, dass es nicht einmal ein kurzes Stoßlüften war – denn das verbessert ja tatsächlich das Raumklima. Die einzige Reaktion der institutionellen Politik bestand in ein paar Sonntagsreden von SPD- und Grünen-Vertreter*innen zum Lobe der Demokratie, um anschließend unbeeindruckt den oben beschriebenen Kurs der Ampelkoalition fortzusetzen.
Apropos Ampel: Nicht erst da fühlte sich die viel beschworene Demokratie an wie eine dieser Fußgängerampeln, bei denen man zwar einen Knopf drücken kann, der dann rot aufleuchtet und Passant*innen das Gefühl gibt, ihre Bedürfnisse würden berücksichtigt; schneller Grün bekommt man aber dennoch nicht, weil der Autoverkehr auf der kreuzenden Hauptverkehrsstraße selbstverständlich Vorrang hat. Simulation eben.1
Vom Rohbau
Vulgärmarxistisch könnte man jetzt konstatieren, dass sich ohnehin nur sehr beschränkt von Demokratie sprechen lässt, wenn der Großteil des materiellen Unterbaus privatwirtschaftlich organisiert und damit der politischen Sphäre entzogen ist, und es dabei belassen. So gesehen war der Parlamentarismus ohnehin nie mehr als eine Art Placebo. Stichwort: der Staat als ideeller Gesamtkapitalist, der als Scharnier zwischen sich widersprechenden Kapitalinteressen fungiert und gegebenenfalls die Profitmaximierung drosselt, um größere Reibungsverluste zu verhindern. Im besten Fall sorgt er zudem mit Investitionen in den öffentlichen Sektor dafür, dass das Humankapital Lesen und Schreiben lernt, auf Straße oder Schiene zur Arbeit kommt und im Krankheitsfall wieder verwertbar gemacht wird. Allerdings lassen sich auch unter diesem Blickwinkel verschiedene Phasen ausmachen, mit einem unterschiedlichen Ausmaß an Einfluss von Individuen und Bewegungen auf das gesellschaftliche Geschehen.
Zur Zeit des Kalten Kriegs funktionierte das Erklärungsmuster einigermaßen: Damit sie angesichts der Systemkonkurrenz nicht auf die Idee kamen, dass man ja vielleicht nicht nur den gesellschaftlichen Reichtum, sondern auch die Produktionsmittel anders verteilen könnte, mussten die Lohnab-hängigen durch sozialstaatliche Absicherung, öffentlich geförderte Freizeitangebote etc. von dummen Gedanken abgehalten werden; sie selbst besaßen mit der »Roten Gefahr« ein Druckmittel, um ein komfortables Lohnniveau, mehr Rechte und kürzere Arbeitszeiten durchzusetzen.
Was wiederum mehr Spielraum ließ, auch jenseits der Arbeitswelt mehr Freiheiten und gerechtere Verhältnisse einzufordern. Genau das taten dann auch die 68er und die daraus erwachsenen Bewegungen, und zwar mit einer Vehemenz, die von den Institutionen des Parlamentarismus nicht einfach ignoriert werden konnte. Wer sich in dieser Zeit für gesellschaftlichen Fortschritt einsetzte, konnte zumindest hoffen, etwas zu bewirken. Insofern ließ sich tatsächlich, wie es im politischen PR-Sprech so schön heißt2, »Demokratie leben«.
Demokratische Zierelemente
Dass die lediglich gnädig zugestanden wurde – und das auch nur, solange sie nicht die Besitz- und Produktionsverhältnisse infrage stellt –, zeigte sich schnell mit dem Putsch in Chile 1973, nachdem die demokratisch gewählte Regierung des Sozialisten Salvador Allende Teile der Wirtschaft verstaatlicht hatte. Ideologische Hauptakteure hinter der Installation der Pinochet-Diktatur und deren marktradikaler Wirtschaftspolitik waren die sogenannten Chicago Boys, eine Gruppe chilenischer Wirtschaftswissenschaftler aus der neoliberalen Denkschule um Milton Friedman. Dass sich das Kapital den Faschismus stets als Option warmhält, wenn es ans Eingemachte geht, wurde damit praktisch unter Beweis gestellt.
Einige Jahre später, begünstigt durch die schwächelnde Ökonomie des Ostblocks, erreichte der Backlash des Kapitals, wenn auch unblutiger, auch die USA und Westeuropa. Nicht zufällig fungierte Friedman in den 1980ern als Berater sowohl des US-Präsidenten Ronald Reagan als auch der britischen Premierministerin Margaret Thatcher.
Deren Leitspruch »There is no alternative« machte klar, was die Entwicklung für demokratische Gestaltungsmöglichkeiten bedeutete: Ein Staat, der sich nicht einmischen soll und dem durch Privatisierungen, Steuersenkungen (nur für Wohlhabende und die Wirtschaft, versteht sich) und Haushaltskürzungen die materiellen Mittel genommen werden, hat wenig Handlungsspielräume, Politik für andere Interessensgruppen als die kapitalistischen zu machen.
So richtig an Fahrt gewann der Klassenkampf von oben und die damit einhergehende Selbstdemontage der Demokratie unter der Devise vom Markt, der schon alles regele, nach dem Zusammenbruch des nicht real existierenden Sozialismus. Gerne wurde zu jener Zeit die fromme Mär des Politologen Francis Fukuyama vom »Ende der Geschichte« verbreitet, der gemäß die freie Marktwirtschaft nun mal die Grundlage der Demokratie und der Kapitalismus die naturgemäße Ordnung der Dinge darstellt.
Diktatorisch ist nach dieser Lesart logischerweise nur, was der Mehrwertproduktion im Weg steht: Sozialstaat, Gewerkschaften und staatliche Eingriffe, sofern sie nicht der Verschärfung der Ausbeutung dienen. Damit verlor auch die Sozialdemokratie als Sachwalterin des Wohlfahrtskapita-lismus ihre Existenzberechtigung – nicht jedoch die entsprechenden Parteien: Irgendwer musste den Leuten ja die neoliberale Härte schmackhaft machen und sich dabei als kleineres Übel gegenüber den konservativen Parteien präsentieren, um den Schein einer Wahlmöglichkeit aufrechtzuerhalten. In Deutschland war es genau deshalb die SPD, die das staatliche Tafelsilber privatisierte, als Druckmittel gegen die Lohnabhängigen zum Halali auf Erwerbslose blies und Rente und Krankenversicherung zur Privatsache machte.3
Das Fundament bröckelt
Das lief unter mal links, mal rechts blinkenden Regierungen ein paar Jahrzehnte so weiter, ohne dass sich am generellen Kurs irgendwas änderte, während die Umverteilung von unten nach oben eine milliardenschwere Oligarchenklasse heranfütterte und der kapitalistische Wachstumszwang munter die Lebensgrundlagen des Planeten erodierte.
Dass die nicht mehr zu verdrängende Klimakrise mit dem Umschlagpunkt von der Nominaldemokratie zum neoliberalen Faschismus zusammenfällt, ist kein Zufall. Die besitzende Klasse hat »No future« schon seit einiger Zeit zu ihrem heimlichen Motto erkoren; wer es sich leisten kann, baut sich Luxusbunker und nutzt ansonsten die Zeit, bis der ganze Laden mit Vollkaracho gegen die Wand fährt, um noch so viel rauszuholen wie möglich.
Ob man dabei überhaupt noch von Kapitalismus sprechen kann, sei dahingestellt – häufig ist inzwischen stattdessen von Neofeudalismus die Rede. Die Mehrwertproduktion durch Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft läuft zwar ungebremst – und zusehends härter – weiter,4 die Gewinne dienen jedoch zunehmend der privaten Bereicherung statt der Investition in künftigen Profit. Wozu auch, wenn ohnehin alles den Bach runtergeht und man nur noch seine Schäfchen vor der steigenden Flut ins Trockene bringen will.
Noch so schwächliche demokratische Strukturen stören bei der Abrissparty jedenfalls nur, weshalb ja auch zivilgesellschaftliche Initiativen zusehends finanziell ausgetrocknet werden und man oppositionelle Regungen einfach am ausgestreckten Arm verhungern lässt. Es scheint derzeit nur die Frage, ob die Regierungsformen der Zukunft offen diktatorisch sein werden oder die Simulation aufrechterhalten wird, in der man noch wählen darf, welche Parteien eine Politik à la AfD umsetzen.
Nachsatz: Es wäre ja alles nicht so deprimierend, wenn es wenigstens wahrnehmbare gesellschaftliche Kräfte gäbe, die sich all dem entgegensetzen. Doch das Spektrum, das jüngst noch massenhaft »für Demokratie« demonstrierte, ist entweder damit beschäftigt, zu beteuern, dass seine Positionen auf gar keinen Fall links seien, oder aber ist zu dem Schluss gekommen, dass die Wurzel allen Übels in der Welt ein winziger Staat im Nahen Osten ist. Aber das wäre Thema für einen weiteren Artikel.