Nachruf auf Hannah Arendt

Anlässlich Arendts 50. Todestages lässt Marcel Matthies ihr Nachdenken über das Denken Revue passieren.

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Am Abend des 4. Dezember 1975 erlitt Hannah Arendt im Beisein des befreundeten Pärchens Jeanette und Salo Baron in ihrer Wohnung in der 12. Etage am Riverside Drive 370 (Manhattan) einen Herzinfarkt. Es heißt, sie habe plötzlich mitten im Gespräch – ihrer Hand entglitt dabei die Zigarette – gehustet, sei ohnmächtig geworden und sofort verstorben. Schon im Jahr zuvor hatte sie einen Infarkt erlitten. Ihr Herz wurde jedoch bereits seit 1970 strapaziert, als ihr Mann Heinrich Blücher einem Herzinfarkt erlag und ihre 30-jährige Ehe endete. Ihre Urne liegt neben der seinen auf dem Friedhof des Bard Colleges. Und obwohl geschah, was nie hätte geschehen dürfen, so Arendts Formulierung für das Grauen in den NS-Todesfabriken, ist sie fähig gewesen, eine Liebe zur Welt zu bewahren. Eines ihrer Gedichte ist Zeugnis dieser Liebe:

Ich lieb die Erde
so wie auf der Reise
den fremden Ort,
und anders nicht.
So spinnt das Leben mich
an seinem Faden leise
ins nie gekannte Muster fort.
Bis plötzlich,
wie der Abschied auf der Reise,
die große Stille in den Rahmen bricht.

So wie die Endlichkeit in jedem Anfang angelegt ist, so ist in einem Nachruf das Bewusstsein von der Vergänglichkeit allen Lebens verewigt, das im Andenken, Gedenken, Eingedenken und in der Andacht die Unverwechselbarkeit eines verstorbenen Menschen zu bewahren sucht. Mit Arendts Pointierung der Gebürtigkeit grenzte sie sich nicht nur von Martin Heideggers Sein-zum-Tode ab, sondern erzeugte einen Lichtblick nach der vollkommenen Finsternis. Demgemäß ließ sie ihr Opus Magnum Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft ausgerechnet mit dem Hinweis auf die fortdauernde Kraft des Neubeginns enden: »Dieser Anfang ist immer und überall da und bereit. Seine Kontinuität kann nicht unterbrochen werden, denn sie ist garantiert durch die Geburt eines jeden Menschen.«

Wer das dreiteilige Buch liest, taucht in das Wie ihres Denkens ein, das durch eine Verknüpfung disparater Sinnschichten gekennzeichnet ist. So ergibt sich bei der Lektüre aller drei Teile weniger eine Einheit als vielmehr ein im Wandel begriffenes Verständnis. Aus Arendts Einsicht in den allumfassenden Traditionsbruch ging ein »Denken ohne Geländer« hervor, das mit dem Aufbau eines in sich geschlossenen Theoriegebäudes grundsätzlich unvereinbar war. Ihrem Denken war mitunter eine Widersprüchlichkeit eigen, die sich teils aus utopischen Hoffnungen und Träumen speiste, obwohl oder vielleicht gerade weil deren Grundlagen durch Auschwitz, Treblinka und Sobibor irreversibel beschädigt wurden.

Nicht nur Arendts oft von schneidender Schärfe getragener Ton dürfte ausschlaggebend dafür gewesen sein, dass ihre Positionen bis heute affektgeladene Urteile hervorrufen, die von Verehrung bis Verfemung reichen. Mehr noch, an der Rezeption ihrer Schriften fällt auf, dass sie für gegensätzliche Weltbilder vereinnahmt werden: War Arendt eine Radikal-Konservative oder eine Radikal-Demokratin, eine elitäre Theoretikerin in der Studierstube oder eine egalitäre Kämpferin für Menschenrechte, eine Zionistin oder eine Antisemitin? Einerseits genießt ihr Essay We Refugees1 (1943) Kultstatus in vermeintlich progressiven Kreisen, weil die Kosmopolitisierung des Denkens, gesellschaftliche und geschichtliche Konkretion ausklammernd, dazu dient, die bevölkerungspolitische Transformation in der Gegenwart zu rechtfertigen. Andererseits ist ihre Argumentation im Essay Reflections on Little Rock2 (1959) bis heute Gegenstand einer Debatte um Rassismus. Arendts unbestreitbare Aktualität ist nicht zuletzt daran zu erkennen, dass zwei Kinofilme (2012, 2025), diverse Dokumentarfilme, Ausstellungen sowie unzählige Publikationen über ihr Schaffen erschienen sind.

Drang in die Tiefe

Über das Denken nachzudenken, sei Philosophie – laut Arendt ein einsames Geschäft, weil das Denken auch nur sehr eingeschränkt geneigt sei, mit anderen zu kommunizieren. Die Tätigkeit des Denkens war für sie »das stumme Zwiegespräch des Menschen mit sich selbst«. Im Gegensatz zu anderen Tätigkeiten sei das Denken unsichtbar, manifestiere sich also äußerlich nicht: Vielleicht einmalig sei das Denken, weil es keinen Drang habe zu erscheinen. Da das denkende Ich, »für das ein Leben ohne Sinn in der Tat eine Art Tod bei lebendigem Leibe ist«, nicht mit dem wirklichen Selbst identisch sei, nehme es seinen Rückzug von der gewöhnlichen Erscheinungswelt nicht wahr. An anderer Stelle heißt es: »Die einzig denkbare Metapher für das Leben des Geistes ist die Empfindung des Lebendigseins«. Ohne das Denken, also ohne den tonlosen Dialog zwischen mir und mir selbst, sei der menschliche Geist tot. »Wenn wir alles wissen würden, würden wir das Denken aufgeben.«

Das Denken ist Arendt zufolge wie das Leben eine Tätigkeit, das sein Ziel in sich selbst trägt. Ein Ziel könne es für das Denken, das immer auf Sinn aus sei, nicht geben. Wenn das Denken nicht durch sich selbst seinen Sinn erhalte, so komme ihm kein Sinn zu. Wenn es stimmt, dass das Denken ein Selbstzweck ist, folgt daraus, »daß alle Fragen über das Ziel oder den Zweck des Denkens so unbeantwortbar sind, wie Fragen über das Ziel oder den Zweck des Lebens.« Anders als der Wissensdrang würde das Denken als solches jedoch nur wenig Nutzen für die Gesellschaft bringen. Erkennbar sei das auch daran, dass sich das Denken gerade deshalb von der unausweichlichen Frage abwende, warum wir denken, da es ja keine Antwort auf die Frage gebe, warum wir leben. Für den größten Irrtum der Philosophen hielt Arendt die Annahme, »dass ich, wenn ich denke, erst wahrhaft ich selbst bin. Gerade wenn ich allein bin, bin ich nie ein ›Selbst‹, nie identisch mit mir«. Dies sei der Irrtum von Heideggers Sein und Zeit gewesen, dessen Denken sie nicht von Einsamkeit, sondern von Verlassenheit gekennzeichnet sah. Denken gehe immer auf das, was unter der Oberfläche sei. Oder es gehe in die Tiefe. Wohlgemerkt, die Tiefe sei seine Dimension.

Im Eingedenken an Walter Benjamin, dessen Vertraute sie im Pariser Exil war und dessen Manuskript Über den Begriff der Geschichte sie nach New York brachte, griff Arendt auf die Denkfigur des Perlentauchers zurück. Um die Denkbruchstücke der Vergangenheit zu entreißen, sei der Tauchgang in die Tiefen der vergangenen Zeiten unabdingbar, denn auf dem Grund des Meeres ließen sich Perlen und Korallen aus dem überkommenen Zusammenhang herausbrechen und als Fragmente an die Oberfläche des Tages retten und um sich versammeln. Im Perlentaucher sei die Suche nach verloren gegangener Überlieferung darin verborgener Erfahrungen verdichtet. Leitend sei für ihn die Erinnerung an eine weit entlegene Vergangenheit, die von der Gegenwart zwar unwiderruflich abgetrennt sei, deren Denkbruchstücke jedoch im Heute die Erwartung einer fernen Zukunft mit Hoffnungen füllen würde. Arendts Denkweise war ein Drang in die Tiefe eigen, die ihr einen Zauber verlieh, so Hans Jonas. Ob aber selbst Arendts Irrtümer bedeutender waren als die Richtigkeiten vieler kleinerer Geister, wie Jonas in seiner am 8. Dezember gehaltenen Trauerrede auf Arendt verkündete, ist fraglich. Zweifellos bezog er sich damit auf Arendts Eichmann-Buch. Auch mit der Frage, warum Arendt in dem Buch so gravierend irrte, setzt sich der Verfasser dieses Nachrufs in der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift casa|blanca3 (2/2025) ausführlich auseinander.

Idealisierung des Denkens

Ein Grund für die heftige Kontroverse um Arendts Buch Eichmann in Jerusalem war ihr darin erhobener Anspruch, die übergreifende Erklärung für die ›Endlösung der Judenfrage‹ in der »Totalität des moralischen Zusammenbruchs« gefunden zu haben. Sie wollte die Judenvernichtung als einen technokratisch organisierten »Verwaltungsmassenmord« verstanden wissen. Entscheidend für das Böse im moralphilosophischen Sinn sei vor allem Eichmanns Gedankenlosigkeit gewesen. Infolge seiner »Unfähigkeit zu denken« sei es für einen Verbrecher-Typus wie Eichmann fast unmöglich gewesen, »sich seiner Untaten bewußt zu werden«.

Dass sich Arendts Erklärung als unzulänglich erweist, ist auch ihrer Herangehensweise geschuldet: Sie identifizierte die dem Täter unterstellte Gedankenlosigkeit mit dem Bösen, ohne gewahr geworden zu sein, dass in ihrer Rede vom vollständigen Fehlen des Denkens bei Eichmann wiederum ihre idealisierte Vorstellung vom Denken zum Ausdruck kam. Zugleich ging Arendt Eichmanns Verteidigungsstrategie vor dem Jerusalemer Gericht auf den Leim: Dass sie Eichmann glaubte, er hätte keinen Standpunkt zur ›Endlösung‹, ja »überhaupt keine Motive« gehabt, wäre keineswegs »von wahnwitzigem Judenhaß, von fanatischem Antisemitismus oder von besonderer ideologischer Verhetzung« angetrieben worden, sondern lediglich als fahrlässiger, farbloser Funktionär bei der Verwaltung des Völkermords bereit gewesen, »alles zu tun, was seinem Fortkommen dienlich sein konnte«, ist von empörender Naivität. De facto war Adolf Eichmann, Leiter des sogenannten Judenreferats im Reichssicherheitshauptamt, ein glühender Antisemit gewesen, der seine Arbeit eifrig betrieben und selbst noch nach dem verlorenen Weltkrieg bedauert hatte, das Werk, alle 10,3 Millionen Juden in Europa zu vernichten, nicht vollendet haben zu können, wie in den Büchern Eichmann vor Jerusalem von Bettina Stangneth und Eichmanns Memoiren von Irmtrud Wojak dargestellt wird.

Arendt knüpfte an ihre Vorstellung vom Bösen in ihrem Buch Vom Leben des Geistes an: »Ist Bosheit, wie immer man sie definieren möge, ist dieser ›Wille zum Bösen‹ vielleicht keine notwendige Bedingung des bösen Handelns? Hängt vielleicht das Problem von Gut und Böse, unsere Fähigkeit, Recht und Unrecht zu unterscheiden, mit unserem Denkvermögen zusammen? [...] Könnte vielleicht das Denken als solches [...] zu den Bedingungen gehören, die die Menschen davon abhalten oder geradezu dagegen prädisponieren, Böses zu tun?« Es ist, als sei sie von der Leuchtkraft des Denkens so fasziniert gewesen, dass sie mitunter davon geblendet wurde: Das Denken allein kann keine hinreichende Bedingung für das Gute darstellen, wie Bettina Stangneth an Arendt kritisiert, sondern kann ebenso dem Bösen dienen. Gerade Intellektuelle sind, weil sie von der Möglichkeit des Denkens in besonderer Weise Gebrauch machen, anfällig für einen Missbrauch des Denkens. Dies hat Arendt sogar selbst erfahren müssen: So erzählte Arendt 1964 im Gespräch mit Günter Gaus von der Entstehung eines leeren Raums, der sich 1933 infolge der vorauseilenden ›Gleichschaltung‹ vieler Intellektueller in Deutschland umgehend um sie gebildet hatte.

Das Beispiellose des millionenfachen Hinmordens ist keineswegs, wie Arendt behauptete, durch »schiere Gedankenlosigkeit« erklärbar, sondern hat vielmehr damit zu tun, dass die Nazis laut Dan Diner bis dahin gültige Maßstäbe der Zweckrationalität schleichend aufhoben. Rationalität als Prämisse des Denkens verlor demnach durch das Handeln der Nazis unbemerkt seine Geltung: Da man den Nazis aber eine rationale Handlungslogik unterstellte, war die gegenrationale Logik der Vernichtung um der Vernichtung willen buchstäblich undenkbar, zumal deren absolute Sinnlosigkeit ökonomischen und militärischen Rationalitätsanforderungen zuwiderlief.

Hans Jonas‘ Aussage, selbst Arendts Irrtümer seien bedeutsamer gewesen als die Richtigkeiten vieler kleinerer Geister, enthält einen wahren Kern: Ihr Eichmann-Buch führt praktisch vor, dass das Denken keine Gewähr für das Gute ist, ja dass sich im Drang zu verstehen mitunter sogar eine »Perversität der Brillanz«4 Ausdruck verschaffen kann. Mit dieser Paradoxie brachte Norman Podhoretz, damaliger Chefredakteur des Commentary, das Kontroverse des Buchs auf den Begriff. Der von Arendt bewohnte Raum geistiger Autonomie war für sie während und nach der totalen Verfinsterung der Geschichte – bildhaft gesprochen – eine von der Sonne beschienene Lagune fernab einer zur Mordstätte gewordenen Welt. Am Ende stellte für sie die gedankliche Unabhängigkeit – neben der Liebe zu ihren Freunden – ein zur Beheimatung geeignetes Domizil dar, das sie nach ihrer Flucht in die USA um jeden Preis zu schützen bereit war. Wer die Wohnstätte ihres geistigen Lebens besichtigen mag, findet unauslöschliche Spuren davon in ihren Büchern hinterlassen.

 

Verwendete Literatur

Hannah Arendt: Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen, München 1986.

Hannah Arendt: Vom Leben des Geistes. Das Denken – das Wollen, München/Zürich 1998.

Hannah Arendt: Ich will verstehen. Selbstauskünfte zu Leben und Werk, München 1996.

Hannah Arendt: Menschen in finsteren Zeiten, München/Zürich 1989.

Hannah Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, München 1986.

Hannah Arendt: Die Sonning-Preis-Rede. Kopenhagen 1975, in: H. L. Arnold (Hg.): Hannah Arendt. Text+Kritik 166/167. München 2005, 3–12.

Hannah Arendt: Denktagebuch. 1950–1973. 2. Bd. München/Zürich 2002.

Hannah Arendt: Ich selbst, auch ich tanze. Die Gedichte, München 2015.

Dan Diner: Gedächtniszeiten. Über jüdische und andere Geschichten, München 2003.

Hans Jonas: Hannah Arendt 1906–1975, Trauerrede für Hannah Arendt, in: Jahrbuch der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung Darmstadt, Heidelberg 1976, 169–171.

Norman Podhoretz: Hannah Arendt on Eichmann – A Study in the Perversity of Brilliance, in: Commentary Vol. 36, No. 3, 1963, 201–208.

Bettina Stangneth: Böses Denken, Reinbek bei Hamburg 2016.

 

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Hannah Arendt (Foto: Barbara Niggl Radloff)