Abtauchen ins konspirative Netzwerk

Die STWST bei Esoteric Ecotechnics in Maribor: Davide Bevilacqua und Tanja Brandmayr im Gespräch über Nebel, Medien, Seancen, Algorithmen und das Medienkunstfestival MFRU31.

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MFRU, das internationale Festival für Computerkunst, fand diesen Herbst zum 31. Mal in Maribor/Slowenien statt. MFRU31 trug 2025 den Titel Esoteric Ecotechnics. Irrational Computation and Conspiratorial Networking. Im Kern wurden dort zeitgenössische Netzkunst und kritische Medienkunst gezeigt und mit der Themensetzung die Auseinandersetzung mit den aktuellen Entwicklungen von Technologie verfolgt, konkret auch eine Reflexion des erstarkenden technokapitalistischen und politischen Totalitarismus und seiner mannigfach toxischen bis irrationalen Effekte. Die beim Festival auch laufende Präsentation In Focus stellte dabei die STWST als Medienkunstinitiative mit aktueller Positionierung und längerer Geschichte vor. Kuratiert war MFRU31 von der slowenischen Kuratorin Lara Mejač und von Davide Bevilacqua von servus.at. Hier ein Gespräch von Davide Bevilacqua, der in Doppel-funktion als Kurator und Leiter von servus.at spricht, und Tanja Brandmayr, die aus der Perspektive der STWST spricht.

Tanja Brandmayr: Ich beginne hier mit einer Frage der Nähe: Stadtwerkstatt und servus.at stehen in kontinuierlichem Austausch, etwa was praktische Fragen der technischen Infrastruktur im gemeinsamen Haus betrifft, aber noch viel mehr reflektieren wir beide die technologischen und gesellschaftspolitischen Entwicklungen und betreiben immer wieder auch gemeinsame Kunst- und Medienprojekte. Vielleicht kannst du als Leiter von servus.at aus deiner Sicht kurz die Gemeinsamkeiten und Unterschiede von STWST und servus.at charakterisieren. Und dann, zweiter Teil der Frage: Die STWST wurde von MFRU31 für den Teil In Focus als Initiative mit längerer Medienkunstgeschichte eingeladen, die sowohl aktuelle Projekte produziert, als sie auch ihre Vergangenheit immer wieder befragt. Ich denke, als Kurator von MFRU31, der gleichzeitig auch Leiter von servus.at ist, hast du mit deiner Ko-Kuratorin Lara Mejač deine Nähe zur STWST ausgiebig diskutiert.
Und meiner Meinung nach sind wir damit mitten im Thema: Wo wird Nähe zum produktiven Element der Kenntnis, des Wissens, der Kontinuität, des Austausches, der Allianzen – und wo wird die Nähe unzulässig, ist die Grenze zu einer toxischen Conspiracy überschritten? Ich meine, die Conspiracy sollte ja innerhalb des Festivalthemas produktiv gemacht werden?  Welche inneren Kreise bilden Initiativen wie unsere bzw. die vielen anderen Initiativen und Artists, die bei Festivals wie MFRU31 eingeladen werden? Welche Verbindungen und Allianzen sollten beschworen werden?

Davide Bevilacqua: Zuerst zum ersten Teil der Frage: servus.at und STWST teilen eine kritische Haltung zu Medienkunst, Digitalisierung und Netzwerken, beide haben Interesse an Autonomie, DIY, Konzeptkunst, am Thema des gesellschaftspolitischen Einflusses der Medien und vielem mehr. Ich würde den Zugang über Internettechnologien der STWST als »Performing und questioning Medien und Informationssysteme in deren Allgemeinheit« beschreiben, und sehe das Agieren von servus.at im Bereich Internet einerseits als experimentell im Netzwerk- und Softwarebereich, aber andererseits auch angewandt, weil Dinge wie das Data Center halt laufen müssen. Was mich generell interessiert, ist die Symbiosis bzw. Verbindung der zwei Initiativen servus.at und STWST, die im Haus auch gemeinsam mit FRO verschiedene Dinge
generieren – im großen Bogen werden etwa Medien erschaffen und bespielt, Menschen und Maschinen vernetzt, Inhalte, Kunst und Diskurs entwickelt und verbreitet.

Was die Themensetzung der Allianzen und der Esoteric Ecotechnics anbelangt, der irrationalen computation und des conspiratorial
networking, stelle ich auch eine Frage: Was ist die Rolle von kritischer Medienkunst? Wir sehen Medienkunsthäuser und fancy digitale Kunstpraktiken, die eigentlich keine Kritik üben, sondern Oberflächen bedienen. Digitalisierung und Netzwerkmedien haben in den 2010er Jahren ziemlich stabile Formen bekommen. Und obwohl die kritischen Aspekte von Big Tech da schon sichtbar waren, ist die Medienkunstwelt gescheitert, eine kritische Kultur zu etablieren, sondern ist von Innovation und der »next big idea« gesquattet worden. Sogar die Elemente der Sichtbarkeit und des Erfolgs der Medienkunstszenen haben hier nichts genützt. Insgesamt denke ich hier an eine Konversation mit Aymeric Mansoux (siehe ARDC!), die die Medienkunst(geschichte) als unauflöslich mit Big Tech und dem militärischen Komplex verbunden sieht.

Bei MFRU haben wir die Narrative der Esoterik aufgezogen, um »conspiratorial« über alternative Ideen zu reden, die versuchen, einen Counterpart zu Big Tech und die digitalen Kulturen des Mainstreams zu entwickeln. Im großen Zusammenhang geht es auch darum, dass man nicht immer nur die letzten Techniken verwendet, sondern historische Bögen spannt und langsame Änderungen erkennt bzw. Muster identifiziert. Mit diesem Switch zu esoterischen Medien, Symbolwelten und Unsichtbarkeit geht es eher um eine Sprache der Mehrdeutigkeit und Unbestimmtheit, die Grundlage für eine weniger affirmative und sich nur andauernd selbstbestätigende Technokultur sein könnte. Und ich frage mich, inwieweit wir das im Verborgenen machen sollen.

Tanja Brandmayr: Müssen wir untertauchen? Wollen wir untertauchen? Was ist zum Beispiel der Grund für Unsichtbarkeit? Mich persönlich nervt ja schon seit geraumer Zeit dieses Gerede über Sichtbarmachung, es ist fast so penetrant wie die Propaganda der permanenten Innovation, weil das alles kontraproduktiv wird, wenn eigentlich keine Substanz mehr vorhanden ist. Substanz entsteht aber vor allem auch durch die unsichtbaren Teile der Dinge, metaphysisch gesprochen durch die neun Zehntel des Eisbergs unter der Oberfläche, die alles erst herstellen und vor dem Absaufen bewahren – und das eine sichtbare Zehntel überhaupt erst möglich machen. Den ganzen Eisberg an die sichtbare Oberfläche zerren zu wollen, ist also schlichtweg idiotisch. Was Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit anbelangt, vielleicht so: Gesellschaftspolitisches Sichtbarmachen gegen Marginalisierung und Verschwinden von Diversität: unbedingt ja.
Nicht abtauchen zu dürfen, sondern permanent in eine neoliberale Angebotshaltung des ausgestellten Individuums zu kommen: unbedingt nein. Zudem anti-privat in den Lichtkegel der Datenextraktion und des größten Experiments der Menschheitsgeschichte gezerrt zu werden: unbedingt nein. 

 

Das Projekt Nebelkegeln als Video im Ausstellungsraum bei MFRU31 (Foto: Tanja Brandmayr)

 

Wir als STWST haben ja heuer, sowohl bei STWST84x11 FOG MANIFESTO Anfang September als auch in Maribor bei MFRU31 Ende September mit dem ausgestellten Projekt Nebelkegeln Unsichtbarkeit bzw. mehrere Aspekte von Vernebelung, Diffusität und fehlender Weitsicht thematisiert. Das heißt, wir haben sozusagen absichtlich in eine Zone der Unüberprüfbarkeit hineingespielt. Wir haben zwar bei unserem Nebelkegeln-Event tatsächlich gekegelt. Aber die Bowlingkugel rollte nicht auf Kegel zu, sondern nur mehr auf Bilder von Kegeln, die auf Nebel projiziert werden. Sie rollt dann natürlich durch die Bilder, die dann auch noch temporär verschwunden sind – und damit haben wir eine spukhafte Halluzination der Realität entworfen, die natürlich frappant auf die KI- und Tech-Entwicklung anspielt. Appellativ haben wir diese Kritik an den Zuständen benannt als: »Es gibt eine richtige Simulation in der falschen«. Was eine gewisse Zustimmung signalisiert, ein Problem. Ebenso das Motto, unter das wir das ganze Spiel gestellt haben: »Jede:r gewinnt, alle verlieren«. Also die Illusion des individuellen Gewinns in der Dynamik des allgemeinen Verlustes, eines gesellschafts-, demokratiepolitischen und ökologischen Niedergangs. Insgesamt war das Projekt Nebelkegeln ein großer Voodoo von Analysen und Behauptungen, etwa, dass sich der Nebel in die Individuen hineingearbeitet hat und Desorientierung erzeugt; oder auch, dass ein »Flooding the Zone with Shit« zu einem »Flooding the Zone with Fog« gewendet werden kann, mit dem dann lustig gespielt wird. Insgesamt haben wir eine neue große Unsichtbarkeitsstrategie angeworfen. Ich meine damit eine Idee des strategischen Abtauchens und Unsichtbarmachens, die noch verfolgt und weitergetrieben werden muss. Konkret wollen wir das Jahresclaiming von 2025, das FOG MANIFESTO im kommenden Jahr 2026 weitertreiben mit dem Claim HAUNTED bzw THE HAUNTED MEDIA. Ich meine, es ist doch bemerkenswert: Bei uns die spukhafte Heimsuchung mit HAUNTED, eure nächste Ausgabe von AMRO, Art meets Radical Openness, wird ein »Becoming Unreadable« thematisieren. Klingt ja schon wieder fast nach Conspiracy?

Davide Bevilacqua: Bevor ich zu AMRO und das Thema Becoming Unreadable komme, beginne ich mit Assoziationen rund um MEFRU31 und die Esoteric Ecotechnics – und mit scheinbaren oder tatsächlichen Irrationalitäten. Ein Beispiel: Wenn man ein Wort nimmt und es zu oft wiederholt fühlt es sich irgendwann bedeutungslos an. Das funktioniert manchmal auch mit KI. Wenn man einen Chatbot auffordert, etwas endlos zu wiederholen, entsteht manchmal ein Glitch, der dazu führt, dass die Trainingsdatenbank ausgespuckt wird. Und wir können darüber diskutieren, ob dabei nicht nur die Datenbank, sondern auch die Ideologie ausgespuckt wird. Und, auch das Gegenteil ist wahr: Ein Wort, das zuerst als Platzhalter verwendet wird, kann mit neuer Bedeutung aufgeladen werden, Schicht für Schicht, inklusive Uneindeutigen und Unklarheiten – und irgendwann wird es ernst genommen. Bei MFRU haben wir die Verschwörung als Metapher für Allianzen unter Gleichgesinnten genommen, damit haben wir auch einen etwas absurden Jargon übernommen, etwa, dass wir eine geheime Loge zwischen den Teilnehmern aufbauen würden – und plötzlich war da auch wirklich das Gefühl, eine Community zu haben, die an etwas Neuem arbeitet. Wenn das auch vom Wording lustig bis irritierend scheint, zumindest strukturell gesehen arbeitet Technologie auch mit verschiedenen Jargons. Das kennen wir, auch wenn sämtliche Vorzeichen hier umgedreht wurden. Wir begannen also, Gedanken zu mobilisieren und gemeinsam zu flüstern, einen Konsens zu finden, zu konspirieren, um mit einer oder vielen Stimmen zu sprechen. Aber auch der Apekt des Geheimhaltens dieser Ideen wurde diskutiert, weil sie vielleicht noch nicht bereit für eine größere Öffentlichkeit sind bzw. generell nicht dazu bestimmt sind, das Tageslicht zu erblicken.

Diese Gedanken hinsichtlich Datenextraktion und Überwachung bewegen auch AMRO, insbesondere, weil derzeit alles, was an Daten öffentlich ist, aufgegriffen und gesammelt wird, um als Trainingsmaterial für Algorithmen herzuhalten. Aber auch der politische öffentliche Diskurs ist verzerrt – er ist zu vielen Interessen und Zwecken untergeordnet, die diesen Entwicklungen zumindest nichts entgegenzuhalten haben. Gegenstartegien finden in einem sozialen Raum zwischen dem Privaten und dem »öffentlich-Öffentlichen« statt, dort, wo Privatsphäre, Konsens und vielleicht auch Vertrauen von grundlegender Bedeutung sind. Es geht darum, dasjenige zu stärken und zu entwickeln, das transversal und weitreichend zirkulieren kann, sozusagen »verschwörerisch« unbeeinflusst und nicht überrollt vom eigentlichen Mainstream.
Es scheint notwendig, einen Raum zwischen Lesbarkeit und Unlesbarkeit zu finden, ein neues Modell, so offen wie möglich, aber so geschlossen wie nötig, um Manipulationen zu vermeiden.

Tanja Brandmayr: Wir haben in dieser Versorgerin auch ein Interview mit zwei Artists, David Benqué und Lucile Olympe Haute, die im Rahmen von MFRU31 ihr Projekt Sigil Séance ausgestellt haben. Ich denke, in ihrer Arbeit wird sehr gut sichtbar, was der Kern des Problems der Multikrisen ist: An sich schon toxische Machtstrukturen, die zunehmend toxische Charaktere nach oben befördern – und ich meine jetzt tatsächlich ganz nach oben, in den Weltraum. Wie im Interview mit den beiden Artists nachzulesen ist, findet mit der Kommerzialisierung der Raumfahrt aktuell dieselbe Expansion und Kolonialisierung statt wie immer. Benennen wir es als Mixtur aus Technokapitalismus, Technofeudalismus, Rechtsextremismus und Profitgier. Möchte man nicht allein deshalb konspirieren? Wir sind hier nämlich mittendrinnen im erstarkenden Totalitarismus und seiner mannigfach lebensfeindlichen Effekte. Und apropos Big Tech und Social-Media-Tools, wo Daten nach Strich und Faden abgeschöpft werden. Ich komme damit zu einer anderen Arbeit, die im Rahmen von MFRU31 gezeigt wurde: zu S()fia Bragas Platform Workshippers. Ihr schreibt dazu im kuratorischen Statement, dass es um unsichtbare Arbeit in den sozialen Medien geht, »wo Nutzer zwischen Hingabe und Ausbeutung, Anbetung und Arbeit schwanken«.
Die Begriffe  Work und Worship (übersetzt: Arbeit bzw. Kult und Lobpreisung) verschwimmen hier zu den »Workshippers«, und ihr schreibt weiter: »Ihre Kosmologie digitaler Nutzerarchetypen verbindet Plattformdiagramme mit dem Baum des Lebens«. Sie »definiert das Posten, Scrollen und Monetarisieren als rituelle Gesten algorithmischer Opfergaben neu.«

 

S()fia Braga, Platform Workshippers (Foto: MFRU31)

 

Es kommen hier bekannte Charaktere wie die Tradwife vor, eher übliche NPCs (Non Personal Characters) oder GRWMs (Get Ready With Me, also z.B. Anzieh-Posts fürs außer-Haus-Gehen), aber auch abgefahrenere Archetypen wie Leute, die sich bei der Arbeit posten oder dabei, wie sie auf TicToc die Arbeit anderer analysieren. Oder: der Archetyp WWIII GRWM, ein Get-Ready-With-Me für den 3. Weltkrieg, also eine private Military-Modeschau, während draußen die Bomben fallen und die Kriegsdrohnen unterwegs sind. Dann gibt es noch z.B. den »Scroll Cleanser« – ein bärtiger Guru, der sein lächelndes Gesicht postet, auf dass am anderen Ende ein Healing stattfinden möge. Oder Menschen, die zuerst sich selbst beim Essen posten, danach aber auf die Idee kommen, stattdessen überhaupt nur mehr KI-generierten Essenscontent zu posten. Wir sind damit zum Beispiel bei Katzen, die Käsekrainer essen. Und ich hätte wirklich nichts dagegen einzuwenden, wenn nicht KI und Datentransfer in Summe unendlich viel Energie fressen würde. Aber ich würde insgesamt sagen: S()fia Braga ist für uns in die Hölle gegangen um zu berichten. Für mich ist es eine absolut großartige Arbeit, und eine Ansammlung von Tristesse. Abgesehen davon: Sichtbarmachen über Social Media hat hier nicht nur zum Abschöpfen von Daten geführt, sondern ist für jene, die an den Schalthebeln der Macht sitzen, geradezu ein klar erkennbares Überblicksszenario, eine perfekte Landkarte, wo manipulative Inhalte am besten gestreut werden können. Für ein niemals endendes: Flooding the Zone with Shit.

Damit komme ich auf den Rahmen unseres Fog Manifestos und des Nebelkegelns zurück: Flooding the Zone with Fog. Und: The Media is the Fog in you. Ich nehme mit der Frage eine kulturpessimistische Position ein um dich nach einer zumindest etwas balancierteren Weitsicht in dieser kompletten Vernebelung zu fragen.

Davide Bevilacqua: Wir wurden alle so sehr manipulativ mit Shit geflooded, dass uns nichts mehr überrascht. Aber wenn wir Sofias Arbeit betrachten, können wir unseren Blick nicht davon abwenden.
An der Oberfläche ist es einfach auch wunderschön anzusehen. Wir haben mit der darunterliegenden Technologie eine perfekte Maschine für Aufmerksamkeit und Datenanalyse. Den perfekten kapitalistischen Spielautomaten, den wir jederzeit und überall starten können. Freiwillig, glücklich, komplett entspannt, wie eine nie endende Zigarette, die wir rauchen. Die mikroskopische Fragmentierung von Identitäten und die zielgerichtete algorithmische Zusammensetzung der Inhalte sind eine unglaubliche Kombination. Und wir sehen in Sofias Arbeit eine generative, kombinatorische und akribische Collage. Wir alle wissen, dass jemand da draußen das tut, was wir sehen, in dieser alltäglichen und bestürzenden Belanglosigkeit. In diesen teilweise unglaublich brutalen Systemeffekten. Dennoch tappen wir in die Aufmerksamkeitsfalle.

In gewisser Weise ist Sofias Arbeit nutzlos, weil wir »es ja wissen«. Aber sie ist brutal notwendig, um uns einmal mehr an unsere menschliche Verfassung zu erinnern. Und wir finden in Arbeiten wie dieser trotzdem neue Dinge vor. Dinge, von denen wir bis jetzt nichts wussten und auch nicht gedacht hätten, dass Menschen das wirklich für eine gute Idee halten. Wenn wir unsere eigene Vernebelung hinsichtlich dieser Entwicklungen noch nicht erkannt haben, können Werke wie diese vielleicht dazu beitragen, dass uns diese brutale Beschleunigung die erbärmliche Sucht bewusst macht, an der wir alle teilhaben, während wir allerdings selbst weiterscrollen und zum großen Algorithmus beitragen. Heute habe ich keine positive Sichtweise, die nicht die Ablehnung von allem beinhaltet und zurück zum Abschalten, zur Geheimhaltung, zum tatsächlichen Weglassen aller Filter und Konventionen und des »Must-See« führt. Wenn ich also an das Projekt Sigil Séance denke, ist das Radikalste, was man tun kann, über den Status quo hinauszudenken und es zu wagen, über die politische Korrektheit hinauszudenken, die alles auf- und wegwäscht. Ist es
moralisch vertretbar, jemandem, der eindeutig brutale Auswirkungen auf die ganze Welt hat, etwas wirklich Schlimmes zu wünschen? Sind wir schon so flooded?

Tanja Brandmayr: Abschließend noch ein paar kleine Maribor-»Stadtblicke«: Du weiß nicht zufällig was über das Haus mit dem selbstgemalten BMW-Zeichen, das so eigentümlich und etwas heruntergekommen mitten im Zentrum steht? Ich vermute, es wird auch bald gentrifiziert sein, daneben wurden bereits größere neue Gebäudekomplexe gebaut. Wir hatten in Maribor einige Gespräche über die Kapitalisierung und den Ausverkauf Sloweniens. 

Mit dem zweiten Stadtblick-Bild, dem Stencil »Kompostirajmo Kapitalizem«, das wir im Vorbeigehen erblickt haben, stelle ich fest, dass wir die Szene als vital und kritisch erlebt haben. Somit die eigentliche Frage zur jungen Szene und/oder der Kunst- und Medienkunstszene in Maribor und Slowenien: Wie nimmst du die Szene wahr?

Davide Bevilacqua: Für mich leidet Maribor unter mehreren Problemen, die wir auf den derzeitigen Hyperkapitalfluss in der Provinz zurückführen können – tatsächlich haben wir dies in der Ausgabe 2024 von MFRU30 thematisiert: Die Leute gehen nach Ljubljana oder in internationale Räume, kleine Provinzstädte sind kein Ort für echte Kultur und Kritik, nur die Hauptstadt kann mithalten. Aber immerhin leben die  Menschen gut. Manches Mal können diese kleineren Städte europäische Kulturhauptstadt sein, und wenn das Geld gut verwaltet wird, entsteht ein großes, sichtbares Lichtkunstfestival oder ein großes Gebäude. Meistens entstehen physische oder kulturelle Infrastrukturen, von denen nur wenige profitieren. Eine ruhige Provinzuniversität strebt danach, eine Alternative zu den 100 besten Universitäten der Welt zu sein. Riesige Flächen an leerem Raum werden nicht genutzt, und es gibt immer noch nicht genug Bedarf, um sie tatsächlich zu öffnen. Das kritische Medienkunstfestival wird weiterhin finanziert, und jeder weiß, dass es stattfindet, und das ist wichtig, aber irgendwie gibt es nur eine winzige lokale Szene, die nicht wirklich mit dem Medienkunstfestival interagiert. MFRU musste  alles und jeden importieren, sogar uns selbst. Die Szene ruft zum antikapitalistischen Widerstand auf, aber die Stadt besteht nur aus Bars im neuen nordischen Stil und renovierten Gebäuden. Auf dem Hauptplatz finden ständig öffentliche Veranstaltungen statt, aber die sind nur für Nicht-Einheimische. Wir schauen uns den Tourismus an und fragen uns, wie die Medienkunststadt mehr Besucher anziehen und international sichtbarer werden kann. Die größere Frage ist also, wohin sich die Szene bewegt, um einer Institutionalisierung und Kommerzialisierung zu entgehen – in dem Wissen, dass dies vielleicht nur vorübergehend ist. Business und Kommerz sind hinter uns her und wollen uns glauben machen, dass wir etwas Besonderes sind, weil wir unabhängige Medienkunst machen. Daher sind Anzeichen rebellischer Medienkunst sowohl Chimären als auch Fata Morganas. Aber vielleicht habe ich in diesem Absatz irgendwann angefangen, über Linz zu sprechen – Maribor ist seiner Zeit einfach voraus.

 

https://www.mfru.org/

https://core.servus.at/

https://stwst.at/

 

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Davide Bevilacqua hat MFRU31 ko-kuratiert und ist Leiter von servus.at.
Tanja Brandmayr ist Leiterin der STWST.