»Todesmärsche« von ungarisch-jüdischen Zwangsarbeiter*innen, Kriegsgefangenen und KZ-Häftlingen; Denunziation und Hinrichtung von Widerstandskämpfer*innen und Deserteur*innen in letzter Minute; Jagd auf Menschen, denen die Flucht aus Lagern und Gefängnissen gelungen war; Einrichtung von Standgerichten; Ermordung von Zivilist*innen, denen Wehrkraftzersetzung vorgeworfen wurde; Intensivierung des Sterbe- und Tötungsgeschehens in »Euthanasie«-Anstalten; Ermordung von alliierten, an Tuberkulose erkrankten Kriegsgefangenen in den »Heilstätten« im Jahr 1945: Die sogenannten Endphaseverbrechen, zumal die auf vormaligem und künftigem österreichischen Boden, sind erklärungsbedürftig. Wäre es für Österreich nach dem großen Angebot in der Moskauer Deklaration 1943, welche die Annexion durch Hitler für ungültig erklärte, nicht naheliegender gewesen, sich entsprechend als erste Opfer Hitlers zu beweisen, anstatt sich unter die letzten Täter einzureihen? War jemand aufrechter Nationalsozialist, blieb er es bis in den Tod; meist in den eigenen, zumindest aber in den der anderen. Kapitulation war ihm selbst schon fremd, doch duldete er sie vor allem bei Kameraden und Volksgenossen nicht. So wurden bis zuletzt Fahnenflüchtige oder schlicht Menschen, die eine weiße Flagge vorm Haus gehisst hatten, mit oder ohne Urteil eines Standgerichtes hingerichtet. War er Vernichtungsantisemit und um die Rassenreinheit des deutschen Volkes bemüht, musste er, egal ob er nun propagandagläubig den Sieg oder erst recht die Niederlage vor Augen hatte, bis zu den letzten Momenten Jagd auf »volksfremde Elemente« machen. Weder der Mord an Juden und Roma und Sinti, noch die ab 1941 »wilde«, dezentralisierte Euthanasie fanden bis zum 8. Mai 1945 ein Ende. Doch so wie die gesamtgesellschaftliche Erfüllung des kollektiven, politischen Wahns im Nationalsozialismus auf das rationale Funktionieren »ganz normaler Männer« (Christopher Browning), die anständige Familienmenschen und Kunstliebhaber sein konnten, angewiesen war, auf Täter, die nur eine »selektive Unabhängkeit von Moral« entwickeln sollten, anstatt zu »halbmenschlichen Raubtieren« (Michael Burleigh) zu werden; so war der private Wahn der Einzelnen – und neben ideologischem Wahn waren es u. a. auch oft dorfpolitische Auseinandersetzungen oder Mietstreitigkeiten, die Anlässe zu Endphaseverbrechen gaben – eine Bedingung dafür, dass den durchaus binnenrationalen Interessen und Zielen der NS-Führung entsprochen werden konnte: Lebende Opfer waren in den Täteraugen Beweismaterial und Zeugen gegen die Verbrecher in einem. Der deutsche Faschismus strebte danach, »sich derer zu entledigen, die nach dem Kriege gegen ihn zeugen konnten: der Insassinnen und Insassen von Gefängnissen, Zuchthäusern und Konzentrationslagern, der Kriegsgefangenen, Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter, der Kriegsdienstgegner und Deserteure«, schreibt Ulrich Sander in seinem Werk zu den Endphaseverbrechen, in dem er für diese einen weiteren Grund angibt: Es ging auch darum, jene Kräfte zu beseitigen, die nach der Niederlage einen antifaschistisch-demokratischen Neuaufbau in Deutschland bewerkstelligen könnten.
Die Endphaseverbrechen im engeren Sinne – wenn man also großzügig die etwa 10 Millionen Kriegstoten alleine in der Zeit nach dem 20. Juli 1944 nicht mitzählt – wurden von einer Reihe an Befehlen teilweise begleitet, teilweise vorbereitet. Zu nennen sind hier etwa der Befehl von Reichsjustizminister Thierack vom 15. Februar 1945, fliegende Standgerichte zur Tötung von Deserteuren zu bilden; Hitlers Befehl vom 19. März an die deutschen Truppen, bei ihrem Rückzug die Infrastruktur zu zerstören; Himmlers »Flaggenbefehl« vom 3. April – wonach alle Männer eines Hauses, das eine weiße Flagge zeigt, erschossen werden sollen – nach einer entsprechenden Bitte des Oberkommandos der Wehrmacht; sowie Himmlers Befehl vom 14. April, bei der Räumung von Konzentrationslagern und Gefängnissen keine Gefangenen zu machen. Diese Anweisungen von höchster Stelle wurden, wie beschrieben, durch die Radikalisierung des zivilgesellschaftlichen Engagements »von unten« ergänzt. Hinzu kommt der Umstand, dass die Kompetenzen für die Errichtung von Standgerichten weit nach unten verschoben waren, »und die Zuständigkeitsgrenzen dieser dadurch entstandenen Litanei an zivilen, militärischen sowie polizeilichen Standgerichten weitestgehend aufgelöst« waren (Militärhistoriker Michel Scheidegger). In den letzten Monaten der NS-Herrschaft hielt die politische Führung selbst eine wie auch immer ausgestaltete juristische Ummantelung der Verbrechen nicht mehr für notwendig. Die Entgrenzung der Gewalt in Form dieser Endphase-verbrechen in den letzten 41 Kriegstagen – abseits von Kampfhand-lungen der Wehrmacht – kostete alleine auf dem Boden des späteren Österreichs 30.000 Menschenleben.
Eine Form der Endphaseverbrechen, die sogenannte Fliegerlynchjustiz, war in der »Ostmark« im gesamtdeutschen Vergleich besonders krass und über die Monate konstant ausgeprägt. Dabei handelte es sich um öffentliche Lynchmorde an alliierten Fliegersoldaten, die den Abschluss ihres Flugzeuges überlebt hatten. Von 556 Flugzeugabstürzen auf heute österreichischem Gebiet kam es bei 131 zu Gewalt, wobei 101 Personen getötet wurden – von Personen aus ganz unterschiedlichen Milieus: Bei einem kollektiven Lynchmord in Linz waren die Täter einerseits SS-Männer und Volkssturmangehörige, aber auch ein Landwirt und eine Rot-Kreuz-Schwester. Besonders erschütternd ist der Fall des US-amerikanischen Fliegersoldaten Walter P. Manning. Er wurde, wie andere auch, nicht nur als Pilot, sondern vor allem aufgrund seiner Hautfarbe besonders brutal behandelt. Nachdem er als Kriegsgefangener der Deutschen Luftwaffe nach einer Hetzjagd interniert worden war, setzte ein von der örtlichen NSDAP koordinierter Mob seine Auslieferung durch. Die Menschenmenge demütigte und misshandelte Manning und erhängte ihn schließlich an einem Laternenpfahl. Seit 2018 erinnert am Fliegerhorst Linz-Hörsching eine Gedenktafel an den Piloten.
Der Leiter des Gaues Oberdonau, August Eigruber, gab im Frühling 1945 aus Rache für die bevorstehende Niederlage den Befehl, Menschen hinzurichten, die im Verdacht standen, Sozialisten und Kommunisten zu sein. So wurden am Abend des 24. April 1945 die Freistädter Männer Richard Gold, Alois Miesenböck, Jakob Smal (in der Ukraine geboren, Kriegsgefangener im Ersten Weltkrieg, der später in Freistadt sesshaft wurde), Johann Zeilinger und Stefan Modelsky (ein polnischer Arbeiter) aus ihren Wohnungen geholt und von Volkssturmmännern, von denen die meisten später nicht zur Rechenschaft gezogen wurden, am Fluss Jaunitz ermordet. Einige der Ermordeten waren bereits Schutzbundkämpfer im Jahre 1934 gewesen. Wenige Tage später, symbolträchtig am 1. Mai, wurden acht Mitglieder der Freistädter Widerstandsgruppe »Neues freies Österreich« in Treffling in der Nähe von Linz hingerichtet.
Ein unfassbares Massenverbrechen trug sich Anfang April im niederösterreichischen Krems/Stein zu. Der Leiter des dortigen Zuchthauses Stein, Franz Kodré, hatte angesichts des Anrückens der Roten Armee die Erlaubnis erwirkt, die weniger belasteten Insassen zu entlassen; fuhr dann aber mit der Befreiung der übrigen etwa 1.700 Häftlinge – viele von ihnen politische Gefangene – fort. Alarmiert von einer angeblichen Revolte in der Anstalt wurden unter der Führung des Gauleiters Hugo Jury Einheiten der Schutzpolizei, des Kremser Volkssturms, der Wehrmachtsgarnison sowie der Waffen-SS nach Krems/Stein beordert. Die Einheiten riegelten die umliegenden Straßen ab und drängten die Häftlinge zurück in die Anstalt. Dort eröffneten die SS- und Wehrmachtsmänner das Feuer und massakrierten hunderte Häftlinge. Kreisleiter Anton Wilthum ordnete zudem die Hinrichtung von Anstaltsleiter Kodré sowie von drei seiner Mitarbeiter an. Anschließend begann eine Jagd auf jene Häftlinge, die entkommen hatten können, oder die früher entlassen worden waren und vom Gewaltexzess nichts erfahren hatten, und sich daher ohne Argwohn durch die Straßen bewegten. Bei diesem Geschehen, das später als »Kremser Hasenjagd« bezeichnet werden sollte, wurden weitere, mehrere Dutzend Häftlinge ermordet.
Mittlerweile in die offizielle Gedenkkultur integriert ist die Erinnerung an die sogenannten Todesmärsche, die Evakuierungsmärsche aus Zwangsarbeits-, Konzentrations- und Vernichtungslagern, im Rahmen derer neben Einzelverbrechen auch in hoher Zahl Massenverbrechen begangen wurden. Bekannt sind etwa die Massaker an jüdischen Zwangsarbeiter*innen in Rechnitz im Burgenland, in Präbichl in der Obersteiermark, in Hofamt Priel im Waldviertel – dessen Hergang und beteiligte Täter nie aufgeklärt werden konnten – oder auch in Enns in Oberösterreich. Wenige wissen allerdings von den Massakern im Bezirk Scheibbs, zum Beispiel in den Gemeinden Göstling an der Ybbs oder Gresten. Auch in der Gemeinde Randegg, zwischen Amstetten und Waidhofen an der Ybbs gelegen, erinnert eine vom lokalen Pfarrer initiierte Gedenkstätte im Schliefaugraben an die Massenerschießung vom 15. April 1945. An diesem Massaker besonders erschütternd ist die prominente Beteiligung von HJ-Funktionären aus Scheibbs und Lunz am See, die die Tat mitplanten, und Hitlerjungen, die sie ausführten. Sie waren, wie der Historiker Johannes Schlack in seiner Untersuchung der Tätermotive für die Endphaseverbrechen im Bezirk Scheibbs zeigt, Teil eines Täternetzwerks von fanatischen Nationalsozialisten, die, befeuert von der von Goebbels propagierten »Werwolf«-Ideologie – der Idee eines NS-Volksaufstandes, eines nationalsozialistischen Guerilla-Kampfes –, zum Teil Scheibbs als letzte wehrhafte Bastion des Dritten Reiches ansahen. Etwa 100 ungarische Juden und Jüdinnen, die aus den Lagern Lilienfeld und Kerschenbach bei St. Veit an der Gölsen evakuiert worden waren, trafen am Morgen des 16. April am Dorfplatz von Randegg ein, von wo sie weiter nach Amstetten und Mauthausen transportiert werden hätten sollen. Dazu kam es nicht, denn in Randegg übergab die Gendarmerie das Kommando an die SS-Männer, offenbar ohne Wissen um deren Mordpläne. HJ-Angehörige geleiteten die zum Tode Bestimmten ca. zwei Kilometer in einen Nebentalkessel des Schliefaubaches, den Hundsgraben, den zuvor ein mit einem Fahrrad ausgeschickter Hitlerjunge als idealen Hinrichtungsort ausgekundschaftet hatte. Dort wurden die 100 jüdischen Männer, Frauen und Kinder erschossen, ihre Leichen später verbrannt. Im Ort Randegg selbst hatte man für die Bevölkerung zeitgleich ein Schauschießen organisiert, um den Lärm des Massakers zu übertönen. Das Schicksal der ungarischen Juden wurde dennoch den meisten rasch bekannt, und in der Regel mit Gleichgültigkeit hingenommen.
Die Gedenkstätte in Randegg ist nicht gut gepflegt, und auch nicht bei allen Einheimischen gut bekannt. Doch für die vergangenen zwanzig Jahre ist, was die Erinnerungskultur in Österreich insgesamt anbelangt, eine erstaunliche Entwicklung zu konstatieren. Gedenkinitiativen, meist wirklich subversiv gegen Widerstände von SPÖ, ÖVP und FPÖ arbeitend, wurden offiziell abgesegnet; die österreichische Opferthese gilt nur mehr als lachhaft – nicht ohne die Gefahr, die tatsächlichen österreichischen Opfer mitzuverlachen; der von konservativer Seite geführte Kampf gegen Antisemitismus wurde lange als authentisch wahrgenommen. Mittlerweile, bei offizieller Kooperation mit den Taliban bei Abschiebungen in ein islamo-faschistisches Terrorregime, bei Abschiebeoffensiven, bei Verschlechterungen der sozialen Situation der in Österreich lebenden Geflüchteten, bei der ideellen und materiellen Beteiligung an der Aufrechterhaltung der tödlichen Festung Europa, aber auch bei weitgehender politischer Ignoranz gegenüber dem Wiederansteigen des Antisemitismus, erscheint die offiziell gewordene Gedenkkultur auch wie der hoffnungslose Versuch, ein Plädoyer dafür zu halten, den gestern Ermordeten doch Menschenrechte zukommen zu lassen, wenn man sie den morgen Ermordeten schon vorenthalten muss, und der Kampf der ÖVP-Rechten gegen linken und islamischen Antisemitismus entpuppt sich als Kampf gegen Linke und Muslime, die zwar als Strohmänner herhalten müssen, das Feuer, das sie fangen, aber selbst mitgelegt haben. Die österreichische Gedenkkultur erhält zunehmend etwas Hohles, Mutloses. Das liegt in der Sache selbst. Denn entmutigend ist tatsächlich die unwillkürliche, sich gegen innere Widerstände aufdrängende Einsicht, dass es realistischer ist, die vergangenen Verbrechen zu verhindern, als den künftigen zuvorzukommen. Vielleicht aber erklärt sich das gestiegene, beweisbare Desinteresse an Gedenkkultur auch aus einem Zeitmangel, weil viele Menschen sich schon konspirativ um die Abwehr der drohenden Frühphaseverbrechen der Faschismen dieser Welt bemühen.